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AutorenbildFabian Ceska

Das Männlichkeitsversprechen - Von mächtigen Männern und denen, die es sein wollen

Aktualisiert: 29. Aug. 2023

Wo? Kontext

Ich befinde mich bei einer Weiterbildung zu systemischer Organisationsentwicklung. Der Seminarraum ist klinisch sauber, lichtdurchflutet und es ist gerade sehr spannend.


Wer? Besetzung

15 Personen sitzen im Stuhlkreis einander zugewandt. Alle sind Menschen mit Management- und Führungsverantwortung, viele davon in der Geschäftsleitung. Alle sind mittleren Alters, alle sind weiß. Ich bin 24 Jahre jung und Praktikant bei der Organisationsberatung, die diese Weiterbildung leitet. Ich darf an allen Modulen der Ausbildung teilnehmen. Darüber bin ich sehr glücklich, stolz und aufgeregt.


Was? Situation

Gerade läuft die Abschlussrunde. Jede Person schildert ihre Tageserkenntnisse und die Relevanz für den eigenen Arbeitskontext. Hierbei navigieren alle zwischen ehrlicher Reflexion und dezenter Selbstinszenierung. Ich liebe sowas!

Nachdem einer meiner Vorgesetzten - ich schätze ihn nach wie vor sehr - ein intellektuell hochwertiges und doch demütiges Abschlusswort formuliert hat, kommt mein großer Auftritt.

“Ich glaube, ich muss hierzu noch etwas ergänzen und deine Aussage toppen!” (innerer Trommelwirbel...). Ich nehme Bezug auf das Gesagte indem ich François Rabelais in Originalsprache zitiere: “Science sans conscience n´est que ruine de l´ame” / “ Wissen ohne Gewissen ist der Ruin der Seele”. (Die Situation wird noch sympathischer in dem Wissen, dass ich Rabelais nie gelesen habe…). Alle sehen mich an, der Fokus liegt ganz bei mir. Ich nehme die angestrengten Seufzer und Augenroller der Gruppe einerseits wahr und erfreue mich gleichzeitig an der Aufmerksamkeit.

Nachdem alle Teilnehmenden gegangen sind, spreche ich noch mit meiner Vorgesetzten - auch sie schätze ich bis heute sehr.

Sie meint: “Fabi, ich habe das Gefühl, dass es dir wichtig ist, “besonders” zu sein. Kannst du damit etwas anfangen?”


Ja, ich kann viel damit anfangen - und ja, es ist mir überaus wichtig “besonders” zu sein - aber nein, ich wusste damals nicht warum.

Warum versuche ich, meinem Umfeld so krampfhaft zu imponieren? Woher kommt mein Selbstverständnis, so viel Raum einnehmen zu dürfen? Wieso fühle ich mich erst gesehen, wenn ich übertreibe? Muss ich “besonders” sein, um auszureichen?


Vier Jahre später sammle ich bruchstückhaft einzelne Puzzlestücke, die meine Verhaltensmuster erklären. Hierbei lande ich bei meinen männlichen Privilegien, um sogleich über meine Rassismuserfahrungen zu stolpern.


Das Männlichkeitsversprechen

Ich bin mit einem unterschwelligen, wenngleich sehr klaren Versprechen aufgewachsen. Dem Versprechen nach Aufmerksamkeit, Dominanz und Macht. Hierbei verspürt Man(n), tief in sich drin, ein leichtes Anrecht auf Besserstellung und Überlegenheit. Es ist ein Männlichkeits-Versprechen, auch “Male- Entitlement” genannt und - wie sag ich das geschmeidig? It sucks mucho!

Für mich fühlt es sich an wie eine kleine verbissene Stimme, die aus einem “mini- wireless” Kopfhörer immer wieder zähneknirschend zu mir spricht. Viel älter als acht Jahre alt kann die Stimme in meinem Ohr bei der Engstirnigkeit ihrer Aussagen nicht sein. Sie fängt ihre Sätze meistens mit “ICH WILL…” an und beendet diese häufig mit “...und das ist mein gutes RECHT”.

Die inneren “Ear buds” gehen an, wenn ich kritisiert, nicht wahrgenommen und unfair behandelt werde. Um ganz ehrlich zu sein, gehen sie an, wenn ich Feedback bekomme, nicht im Mittelpunkt stehe und wenn andere nicht unmittelbar meine Bedürfnisse priorisieren.

Die kleine achtjährige, Stimme kläfft dann:” Dir steht das größte Stück Fleisch zu, du bist ja auch der Größte!” oder “Sprich und stell dich in den Mittelpunkt! Deine Gedanken sind einfach so krass spannend" und ”Dir wurde Unrecht getan! Ignoriere die Anderen und zieh dich zurück. Dann müssen sie sich um dich sorgen und sich bei dir entschuldigen!”. Leider trägt die Stimme aber auch gewaltvollere Botschaften mit sich. Dann flüstert sie: “Niemand darf dich traurig oder unsicher machen! Wehr dich, wenn nötig auch mit Gewalt! oder “Du hast ein Anrecht auf Sex! Dein*e Partner*in darf ihn dir nicht verwehren.”

Die Stimme spiegelt in solchen Situationen das internalisierte Überlegenheitsversprechen von Männlichkeit und verstärkt ein Verhaltensmuster, das die eigene Dominanz fördert.


“Aber Fabi!”, werden jetzt einige zurecht widersprechen. “Nicht alle Männer sind so! Nur die wenigsten Männer, die ich kenne, sind an Macht interessiert, geschweige denn nutzen Gewalt, um diese zu festigen. Jetzt ma´butter bei die Fische!” (Interessanterweise spricht die skeptische Person in meiner Phantasie mit nordischem Schnack).

Und es stimmt: Männer haben die unterschiedlichsten Strategien, um Dominanz auszustrahlen und Macht einzufordern. Manche vergrößern ihre körperliche und sonorische Raumeinnahme, einige schaffen sich durch ihr Allgemeinwissen Ansehen und andere wiederum haben ein so starkes “natürliches” Charisma, dass ihnen einfach alle gerne folgen. Nur wo liegen die Unterschiede und sind sie wirklich so naturgegeben?


MännlichkeitEN

Das erste Missverständnis ist, dass wir “Männlichkeit” sagen und glauben, damit eine einheitliche Kategorie bezeichnet zu haben. Jedoch sind die persönlichen sowie strukturellen Differenzen zwischen den Lebensrealitäten von Männern* enorm.

Kurz: Um Männlichkeit zu verstehen, müssen wir über MännlichkeitEN sprechen.

Die Soziologin Raewyn Connell unterscheidet hierfür zwischen Hegemonialen, Komplizenhaften, Untergeordneten und Marginalisierten Männlichkeiten (Connell, 2015).

Um die Aufmerksamkeitsspanne der TikTok-Gewohnten, den vollen Terminkalender der LinkedIn-Süchtigen und die Geduld der kritischen SZ-Lesenden nicht unnötig zu strapazieren, werde ich mich hier auf die Gegenüberstellung von Hegemonialen und Marginalisierten Männlichkeiten beschränken.

Als Hegemoniale Männlichkeit gilt eine Männlichkeit, die zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort bestimmte Merkmale aufweist, durch die ihre Macht von der Gesellschaft akzeptiert und legitimiert wird (S.130- 131). Im aktuellen “Mainstream- Deutschland” betrifft diese Männlichkeit weiße, cis- heterosexuelle, westeuropäische Männer mittleren Alters mit hohem Bildungsabschluss und ohne Behinderungen. Die vorhandene Macht und Überlegenheit erscheint sowohl den Männern selbst als auch dem Umfeld als legitim, natürlich und wohlverdient. Diese Personen bieten wenig Angriffsflächen für Kritik und nutzen besonders subtile Mittel für die Durchsetzung ihrer Machtposition. Sie greifen auf Charme, Eloquenz, Ironie und Effizienz zurück, anstatt unmittelbare Gewaltandrohungen zu machen. Dies wird von dem Umfeld oft geschätzt und häufig konkret eingefordert. (Stuve & Debus, 2012, S.52)

Ich kenne solche Personen und weiß wie es sich anfühlt, mit Ihnen unterwegs zu sein. Zum einen fühlt man sich besonders und ist einfach nur dankbar, dass die Person einem Zeit und Aufmerksamkeit schenkt. Mit der Person scheint alles immer glattzulaufen. Das Umfeld ist auf einmal unglaublich offen und hilfsbereit, alle sonst geschlossenen Türen werden geöffnet.

Zum anderen fühlt man sich neben der Person unsichtbar, klein und untergeordnet. Andere Menschen nehmen eine*n im Schatten der Person fast nicht mehr wahr. Die wenigen Blicke, die man erntet, spiegeln die verwirrte Erinnerung wider, dass man ja auch noch da ist - gefolgt von einem kurzen, aufmunternden Lächeln - bevor die Aufmerksamkeit wieder auf den Star überspringt und deren Pupillen sich weiten.


Diese Männlichkeit trifft nicht auf viele Männer zu, doch alle Männer sind von ihr betroffen. In ihr kristallisiert sich das Überlegenheitsversprechen von Männlichkeit und schafft somit ein, für den Großteil der Gesellschaft, unerreichbares Ideal. Denn wer nicht (fast) alle Privilegien gleichzeitig vereint und dennoch versucht, mit den gleichen Strategien Dominanz, Aufmerksamkeit und Macht einzufordern, wird kläglich daran scheitern.

Dies trifft auf Marginalisierte Männlichkeiten zu. Diese können aufgrund bestimmter gesellschaftlicher Ausschlüsse kaum Zugang zu hegemonialen Machtpositionen erlangen. Raewyn Connell versteht unter Marginalisierten Männlichkeiten vor allem Personen, die von Rassismus und/oder Klassismus betroffen sind (2015, S. 131-135).


An- und Ablegen der eigenen Hautfarbe

Hier schließt sich der Kreis und ich befinde mich wieder bei meiner Anfangsfrage. Wieso habe ich ein solch starkes Bedürfnis “besonders” sein zu müssen? Die Antwort: Ich habe nach dem gleichen Männlichkeitsversprechen wie hegemoniale Männer gestrebt, nur war dieses nicht mit den gleichen Mitteln zu erreichen.

Ich musste “besonders” auffällig, laut, stark, belesen, lustig, lieb und dankbar sein, um die Ansprüche auf Dominanz (manchmal) einlösen zu können. Dieser Umgang mit der eigenen Lebensrealität als marginalisierter Mann nennt sich Protestierende Männlichkeit (Stuve & Debus, 2012, S.55)

Ich habe zwei unterschiedliche und paradoxe Strategien erlernt, um "besonders" zu sein. Was beide Strategien miteinander verbindet ist, dass sie sich an Hegemonialer Männlichkeit orientieren:


Die erste Strategie ist “vorteilhafte” Vorurteile über mich anzunehmen, diese zu übertreiben und dadurch als Hypermaskulin = “überlegen” zu gelten. Im Fußballverein war es Konsens, dass migrantische Männer einfach naturgegeben sportlicher sind als der Rest. Ich selbst glaubte lange daran, dass meine Hautfarbe der Grund war, warum ich die Gegners mühelos austanzen konnte. Und ich glaubte es gerne! Es war ein Bereich, wo ich einen Vorteil hatte, der mir nicht zu nehmen war. Mir wurde eine Überlegenheit zugesprochen und eine Aufmerksamkeit zuteil, die ich aus keinem anderen Kontext kannte. Ich war überlegen WEIL ich “besonders” war. (Wenn ich heute über den Platz stolpere und mir beim vierten Fehlpass in drei Minuten die Luft ausgeht, vermisse ich diesen internalisierten Rassismus manchmal…aber nur ganz kurz).


Die zweite Strategie ist das genaue Gegenteil und wird auch als “Covering” definiert. Das Ziel ist es, meine "Andersheit" vergessen zu machen, indem ich stigmatisierte Teile meiner Identität nicht zeige oder herunterspiele (Eskalera, 2019). Diese Facetten versuchte ich in meiner Jugend mit übertrieben viel Anpassung zu überdecken. Wie ein überdramatischer Theaterschauspieler bei einer spontanen Besetzung spielte ich meine Interpretation eines hegemonialen Mannes. Mit 15 Jahren hatte ich Tolstoi, Dostojewski, Kundera, Rostand et.al gelesen und hörte die “Vier Jahreszeiten” von Vivaldi in Dauerschleife. Ich quatschte meine Klassenkamerad*innen und deren Eltern mit Zitaten von Kant und Voltaire voll und war plakativ in Thomas Mann vertieft, wenn ich mich mit Freund*innen zum cornern traf. (Dies führte oftmals zu hart cringigen Situationen, da die allermeisten der Gleichaltrigen 0,00% Interesse an dem Ganzen hatten und ich ihnen damit überhaupt nicht imponierte).

Doch dieses “covering” und somit das Verdecken meiner rassifizierten Anteile beeinflusste nicht nur meine Verhaltensweisen, sondern auch mein Erscheinungsbild.

Bis vor einigen Jahren trug ich im Kampf gegen meine Locken meine Frisur kurz und rieb mir Unmengen an klebriger Paste in die Haare, damit sie glatt blieben.

Im Studium trug ich zwei Jahre lang eine spezielle Sonnencreme auf, durch die ich einen Hautton heller wurde. Ich hörte damit erst auf, als mich eine Kommilitonin an einem dunklen Novembertag fragte, ob ich Sonnencreme trage. Die Scham, die ich damals gefühlt habe, lässt meine Finger noch heute beim Schreiben eisekalt werden. Ich wurde dabei erwischt, wie ich, im wahrsten Sinne des Wortes, meine Hautfarbe überdecken wollte, um mein “Andersein” um eine Schattierung zu schmälern. Mein (unbewusstes) Ziel war es, mich meinen akademischen Kommiliton*innen anzugleichen. Ich wollte aus anderen Gründen “besonders” sein dürfen, die sich nicht ausschließlich auf mein Erscheinungsbild reduzierten. Zum Beispiel, weil ich Persönlichkeiten erraten konnte, indem ich intensiv stirnrunzelnd deren Gesichtszüge studierte (Das nennt sich Physiognomik - und ja, ich glaubte wirklich das zu können - und ja, es ist mir peinlich).


Für mich war Protestierende Männlichkeit der Versuch, das Versprechen auf Überlegenheit einzulösen, indem ich mich immer an den Verhaltensweisen orientierte, die kontextspezifisch Macht und Dominanz versprachen (Bsp: Muskeln beim Sport vs. distanziert Zigarette drehen im alternativen Theater). Für diese teils widersprüchlichen Verhaltensweisen habe ich je nach Kontext versucht, meine Hautfarbe an- oder abzulegen.

Dadurch hat sich in meiner Identität eine innere Zerrissenheit aufgetan, die mich selbst so verwirrt, dass ich manchmal darüber lachen kann. Meistens schmerzt sie jedoch so sehr, dass ich so lange stumm bleiben muss, bis die Gefühle vorbeiziehen. An guten Tagen darf ich darüber weinen.

Meine Hoffnung ist es einen immer größeren Abstand zu dem Männlichkeitsversprechen einzunehmen. Ich will mich nicht länger an Hegemonialer Männlichkeit orientieren. An einer magischen Überlegenheit, die alles bekommt, weil sie alle Normen erfüllt. Ich will gar nicht alles bekommen und haben dürfen. Noch weniger wünsche ich mir, dass mein Umfeld mir alles zugesteht und sich konstante Überlegenheit von mir wünscht. Dann müsste ich auch immer selbstbewusst, souverän und cool sein und immer alle Entscheidungen treffen - Schreck lass nach!

Männlichkeitsversprechen, Protestierende Männlichkeit

Was soll ich mit Effizienz, Entscheidungs- und Durchsetzungsvermögen, Eloquenz und Überlegenheit…was soll ich damit, wenn ich doch schon Gesichter lesen und damit Charakterzüge offenbaren kann? 🙂




Literaturliste:

  • Männlichkeitsanforderungen ,Olaf Stuve und Katharina Debus In: Dissens e.v. & Debus, Katharina/Könnecke, Bernard/Schwerma, Klaus/Stuve, Olaf (Hrsg.) (2012): Geschlechterreflektierte Arbeit mit Jungen an der Schule. Texte zu Pädagogik und Fortbildung rund um Jungen, Geschlecht und Bildung. Berlin.

  • Connell, R., 2015. Der gemachte Mann: Konstruktion und Krise der Männlichkeit. 8 te Auflage, Hrsg. Duisburg- Essen: Springer VS.

  • Blog, Eskalera (2019): Covering, Assimilation, and Code-Switching: A Quick Guide. Verfügbar unter: https://eskalera.com/covering-assimilation-and-code-switching-a-quick-guide/(23.6.22)


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