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'Lazy Girl' -- Wenn Klassismus zur Arbeit geht.

  • Autorenbild: Maike Stemmler
    Maike Stemmler
  • vor 5 Stunden
  • 5 Min. Lesezeit

Dieser Text beginnt mit einem Wunsch: Ich wäre gern ein ‘Lazy Girl’. Eine Person, der es leicht fällt, faul zu sein. Widerständig unproduktiv im schönsten Sinn. Dem entgegen steht jedoch ein Spitzname, der sich während meines Masterstudiums etabliert hat – ‘Maike, the maker’. Ich bin bekannt für energisches Anpacken, aktives Mitdenken und dynamisches Strukturieren. Ich treffe lieber eine Entscheidung als keine. Und bei der Frage, wer eine verantwortungsvolle Aufgabe übernehmen will, geht meine Hand (zu) oft nach oben. Doch hinter meinem Enthusiasmus steckt mehr als nur ein Persönlichkeitsmerkmal. Klassismuserfahrungen wirken sich auf die Arbeitseinstellung von Menschen aus – so auch auf meine.

The hustle is real.  

Ich sag’s mal so: Aus Enthusiasmus wird schnell Ernst, wenn es darum geht, sich aufgrund der Klassenherkunft früh den eigenen Lebensunterhalt verdienen zu müssen. Ich habe mit dreißig schon viel gearbeitet: Unbezahlt als Praktikantin und Hospitantin, bezahlt als Werkstudentin, Feste Freie und Selbstständige. Ich habe Schüler*innen Nachhilfe in Latein gegeben (nerdy, ich weiß!), in den Ferien Jugendfreizeiten betreut und für 50 Personen in einer Zeltküche gekocht. Ich habe fünf Jahre als Servicekraft gearbeitet, in einem Marktforschungsinstitut Fahrtests für Neuwagen betreut, beim Radio als Nachrichtenreporterin Straßenumfragen gemacht und in einer Kita als Aushilfe gejobbt. Mein Lebenslauf sprengt inzwischen die empfohlenen zwei DIN A4 Seiten. Neben der finanziellen Notwendigkeit fühlte ich mich als Arbeiter*innenkind immer davon getrieben, mehr Wissen, Erfahrungen und Qualifikationen sammeln zu müssen, um anderen und mir selbst zu beweisen, dass ich etwas ‘offiziell’ kann. Ich hatte das Gefühl, dass es nie reicht. Zu wenig Geld oder zu wenig Erfahrung. Oder beides. So verbrachte ich Wochenenden in mittelmäßigen Weiterbildungen, akzeptierte niedrige Stundenlöhne und stellte in meinem Wertesystem Arbeit über Freizeit. Wie oft hatte ich den Gedanken im Kopf: “Naja, für irgendwas wird es schon gut sein. Und wenn es mir nicht gefällt, weiß ich immerhin, was ich nicht will.” Heute weiß ich, nicht jede Erfahrung muss ein ‘Learning’ sein.


Klassismus ist ungesund. Studien weisen darauf hin, dass Menschen, die zum Beispiel aus sozioökonomisch benachteiligten Verhältnissen kommen, mit höherer Wahrscheinlichkeit unter Ängsten, Stress und psychischen Erkrankungen leiden. Klassismus gilt als "significant overall stressor” und wirkt besonders stark in der Intersektion mit anderen Formen struktureller Diskriminierung. Als queere Frau Klassismus zu erleben hat für mich unter anderem dazu geführt, dass es mir oft schwer fällt, den Wert meiner Arbeit zu erkennen – monetär wie ideell. In einem meiner Arbeitszeugnisse steht lobend, dass ich gerne Extra-Aufgaben übernommen habe und auch mal Privates für den Job zurückstelle. Ich weiß nicht, ob ich das gut finden soll. Wenn ich an Arbeit denke, denke ich an Sätze wie: Arbeit ist anstrengend. Arbeit macht müde. Erst die Arbeit, dann das Vergnügen. Die gesellschaftliche Hustle Culture liebt meine hohe Leistungsbereitschaft gepaart mit Existenzängsten und gesteigertem Selbstanspruch – und macht mir ein schlechtes Gewissen, sobald ich eine Pause einlege. Entspannung ist was für Faule, flüstert sie leise in mein Ohr. Das Bild der immer fleißigen Biene hat sich so in mein Gedächtnis gebrannt, dass Aktivität zur obersten Maxime wird. 


I'm still learning to dream.

Von Klassismus betroffen zu sein bedeutet in meinem Fall auch eine ansozialisierte Bodenständigkeit. Die ewige Realismus-Brille hilft dabei, Risiken gut abwägen zu können und informierte Entscheidungen zu treffen, doch sie verhindert auch etwas – zu träumen. Richtig bewusst geworden ist mir das in einem der ersten Strategiemeetings bei Detox Identity. Es ging um die Frage, was wir uns für die nächsten fünf Jahre bei Detox wünschen und vorstellen. Um mich herum wurde wild drauf los gedacht und farbenfrohe Luftschlösser gemalt. Ich hingegen wurde immer stiller, meine Augenbrauen zogen sich zusammen – ich fühlte mich gestresst. Ich klammerte mich an meine erlernte Demut und mimte die Spaßbremse. “Wir müssen das auch mal realistisch sehen!”, “Woher soll denn das Geld kommen?”. Mit etwas Abstand wurde mir klar, was damals los war: Im Gegensatz zu meinen beiden Kollegen bin ich als Einzige von Klassismus betroffen. Geprägt durch meine Erfahrungen habe ich ein anderes Verständnis von Arbeit und einen anderen Zugang zu Geld. 


Für mich bedeutet Arbeit = Existenz. Ich kann mir mein Leben ohne zu Arbeiten nicht vorstellen, weil es sowohl Einkommensquelle als auch Identitätsstiftung ist. Arbeit ist dadurch mit einer Ernsthaftigkeit belegt, die zum Teil den Spaß vergisst. Und damit meine ich nicht nur mein Verhältnis zur Arbeit, sondern auch mein Selbstbild als arbeitende Person. Ich nehme mich im Beruf als sehr verbindlich, eher ernst und bloß nicht leichtsinnig wahr – und ich will, dass andere mich ebenso sehen. An manchen Tagen befürchte ich deshalb, dass meine sehnsüchtigen Zukunftsträume, sobald ich sie laut ausspreche, zum Scheitern verurteilt sind. Dass ich mich lächerlich mache, weil ich wage zu glauben, dass ich mehr verdienen könnte. Stattdessen fantasiere ich lieber im Stillen, um im Zweifel so tun zu können, als hätte ich es eh nie gewollt. Denn in dem Bestreben nach Mehr fühle ich mich beinahe gierig und so als ob ich meine Herkunft als Arbeiter*innenkind verraten würde. An anderen Tagen fehlt mir schlichtweg das Vorstellungsvermögen, was noch alles möglich wäre. Meine Weitsicht beschränkt sich auf die Realität, die mir vertraut ist, weil ich nur diese kontrollieren kann. Dahinter steckt vor allem eins: Angst. Klassismus hält klein – im Kopf und ganz konkret.


I can change.  

Klassismus ist nichts, worauf ich stolz bin. Vielmehr ist diese Form struktureller Diskriminierung vor allem mit Scham behaftet und verfängt sich im ständigen Versuch, Ungleichheiten zu kaschieren. Das trifft besonders auf Menschen zu, die im Gegensatz zu mir, in Armut leben, arbeits- oder wohnungslos sind. Ich wünsche mir deshalb, dass wir mehr über Klassismus sprechen. Dass Erfahrungen und Geschichten in ihren feinen Nuancen und Verschränkungen sichtbar und hörbar werden. Denn auch meine ist nur eine von (so) vielen. Die meisten von uns begegnen sich heute als Erwachsene – im Berufsleben, in Freund*innenschaften und romantischen Beziehungen. Wir sehen Menschen nicht unweigerlich an, wie sie aufgewachsen sind, wie ihr Kontostand ist, welche Träume sie zurückgestellt haben. Es ist notwendig und bereichernd, hier in Gespräche zu gehen, um einander besser verstehen zu lernen. Über Klassismus zu sprechen erfordert solidarisches Zuhören und Mitfühlen und ermöglicht zugleich neue Formen von Nähe und Verbindung aufgrund geteilter Erfahrungen. Manchmal ist es nur ein Blick, der mir signalisiert: Ich weiß, wovon du sprichst. 


Ich habe in den letzten Monaten die schöne Erfahrung gemacht, dass Offenheit im Umgang mit Klassismus Wirkung zeigt. Aufgrund ehrlicher Selbstreflektion, intensiver Auseinandersetzung und bestärkender Gespräche spüre ich, dass meine Klassismus-Prägungen langsam zu bröckeln beginnen. Ich erlaube mir Freude, Spaß und Leichtsinn als Teil von Arbeit zu begreifen. Ich erlaube mir, Fehler und Pausen zu machen. Und noch viel wichtiger: Ich kann inzwischen sagen, dass ich meine Klassismus-Erfahrungen als eine wertvolle Ressource begreife, die strukturelle Diskriminierung nicht legitimieren soll, aber zumindest eine Form von Empowerment schafft. Ich bin stolz auf das, was ich heute kann und bin!


Vielleicht will ich am Ende gar kein ‘Lazy Girl’, sondern ein ‘Dreamy Girl’ sein. Eine Person, die ihre Träume ernst nimmt und ihnen vertraut. I handle my dreams with care.



 
 
 

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